Teil 7 – Saint-Jean bis Burgos
Tag 65 – 21.05.2014 – Roncesvalles (26km)
-Antjes letzter Tag und das schlimmste Wetter meines Lebens-
Nach dem Frühstück im Gästehaus, bei dem wir noch den Engländer Paul kennenlernten, brachen wir auf. An der Kathedrale von Saint-Jean hatten wir uns am Vortag mit Ann verabredet. Sie wartete bereits auf uns und so machten wir uns zu dritt auf den Weg über die Pyrenäen. Bereits von unten sahen, wir, dass es da oben wohl nicht sehr sonnig war, es hing eine dicke Wolkenschicht über den Bergen.
Auf der Landstraße führte der Jakobsweg, der ab diesem Tag die Bezeichnung Camino Frances trug, zunächst nach Huntto.
Hier fiel mir ein, dass ich ja immer noch einen Stapel Postkarten im Rucksack hatte. Den hatte ich in Saint-Jean, total vergessen einzuwerfen.
In einer kleinen Bar am Straßenrand fragte Antje, die unter anderem fließend französisch sprach mir zuliebe nach, ob es denn noch irgendwo einen Briefkasten gab. „Leider nein“ bekamen wir zur Antwort. „Aber ihr könnt die Postkarten in meinen Briefkasten legen. Der Postbote nimmt diese dann mit!“
„Was für ein tolles System“, dachte ich. Dies würde in Deutschland bestimmt nicht funktionieren.
Die Postkarten kamen übrigens alle an.
Auf einem Feldweg, der etwas später asphaltiert war, kamen wir nach Orisson, auf etwa 790 Hm gelegen. Hier genehmigten wir uns eine etwas längere Pause in dem Refuge Orisson (immer noch in Frankreich). Für kurze Zeit sah man hier oben auch die Sonne.
Der asphaltierte Weg führte uns drei vom Refugio aus immer weiter nach oben und das Wetter wurde von hier an immer schlechter. Auf etwa 1300 Hm waren wir endgültig von Gewitter-Wetter umgeben.
So einen Sturm mit Regen, Hagel und Wind hatte ich noch nie erlebt. Dies toppte einfach alles, selbst das schlechte Wetter, welches ich damals 2010 und 2011 auf dem Croagh Patrick in Irland hatte.
Der Regen war eigentlich nicht das Schlimmste, denn mein Poncho hatte diesen wunderbar abgehalten. Nur der Hagel fühlte sich durch den kräftigen Wind auf der Haut an, als würden da Millionen Nadeln stechen. Bei diesem Wind hatte ich auch öfters den Gedanken: „Wann wird denn mal so ein Wanderstock auf uns zufliegen?“
Kurz vor dem höchsten Punkt (1438 Hm) stand eine kleine Beton-Hütte, etwa vier mal vier Meter groß am Wegesrand. Ich öffnete die Tür und schloss diese auch gleich wieder. „Da hätte nicht einmal mehr mein Rucksack reingepasst!“ Sagte ich zu Ann und Antje.
Wenig später, das Wetter war immer noch nicht besser, sah ich einige hundert Meter vor uns drei Pilger laufen. Von der Körpergröße gesehen waren die drei hoch, niedrig und wieder hoch.
„Schaut mal da vorne. Pilgern die etwa mit einem Kind?“ Fragte ich die andern beiden. „Ich glaube ja!“ Bekam ich von Antje als Antwort. Irgendwann überholten wir die Drei und tatsächlich. Zwei Erwachsene mit Kind, wahrscheinlich ihre Tochter. Die Kleine lief ganz tapfer an der Hand ihrer Mutter und die Rucksäcke fanden im Großraumkinderwagen Platz.
Der Wind nahm auf dem folgenden Stück noch einmal heftig zu und es passierte, was passieren musste. Die Druckknöpfe, welche meinen Poncho an den Seiten zusammengehalten hatten, gingen auf und ich bzw. wir bekamen sie auch nicht wieder zu, bei diesem Sturm. Da fragte mich Antje: „Möchtest du meinen Poncho haben? Ich habe ja noch eine Regenjacke drunter.“ Sie lieh mir ihren Poncho und ich war einmal mehr dankbar, sie damals in Golinhac getroffen zu haben.
Eine gute Stunde später, der höchste Punkt war überschritten und wir waren aus dem Sturm raus, ging es einige Höhenmeter wieder nach unten. An einem Waldrand führte der Jakobsweg nun weiter über einen sehr aufgeweichten Feldweg.
Hier kamen wir am berühmten Roland-Brunnen an, rechts daneben stand eine Steintafel „Santiago de Compostela – 765 km“. Eins wusste ich an diesem Punkt: „Wir sind in Spanien!“ Antje, Ann und ich umarmten uns und konnten unsere Gefühle kaum fassen. Wir hatten es geschafft.
Hier begriff ich nun, dass ich eineinhalb EU-Staaten durchwandert hatte. Ich war den Tränen nahe.
Nun ging es steil bergab nach Roncesvalles. Gegen 16 Uhr kamen wir in Roncesvalles an und da kam auch schon die Sonne heraus und trocknete all unsere nassen Sachen wieder.
Wir konnten unser Glück kaum begreifen, wir hatten tatsächlich die Pyrenäen überquert und das bei diesem Wetter.
In der Klosterherberge waren wir die ersten Pilger, die in das alte Gemäuer gesteckt wurden (über 1000 Jahre alt), denn die neuere Herberge, welche 2011 eröffnet wurde und Platz für etwa 180 Pilger bot, war bereits voll.
Von einem der freiwilligen Hospitaleros wurden wir durch den Innenhof des Klosters und über die Straße hinweg zur alten Herberge geführt. Von ihm erfuhren wir auch, dass dieses Gewitter, das stärkste seit einigen Jahren war. „Na super!“ Dachte ich mir. „Ausgerechnet da musst du über die Pyrenäen wandern.“
Nach und nach kamen immer mehr Pilger an und so füllte sich auch dieser Schlafsaal immer weiter.
Etwas später genoss ich für kurze Zeit die schöne Sonne im Innenhof des Klosters und traf dort auf die beiden Schweizer Engel Evelyn und Ladina.
Die beiden sind am Vortag von Saint-Jean nur bis nach Orisson gelaufen und hatten somit für diesen Tag nur ein kurzes Stück über die Pyrenäen vor sich gehabt.
In der Gemeinschaftsküche kochten wir uns am Abend ein leckeres Gericht: „vegetarische Spaghetti Bolognese.“
Vor der kleinen Bar gegenüber der Herberge genehmigten Antje und ich (Ann war hundemüde und hatte sich bereits hingelegt) uns ein leckeres kühles Bier. Dies hatten wir uns wahrlich verdient.
Am Tisch neben uns saß die Familie, welche wir auf dem Pyrenäen-Pass getroffen hatten. Es stellte ich heraus, dass sie Deutsche und die beiden nicht die Eltern, sondern bereits die Großeltern der Kleinen waren.
-Torsten, Mandy und die kleine Kaety (5 Jahre alt)-
Dieses Vorhaben, der Jakobsweg, stand bereits seit vielen Jahren auf ihrer Wunschliste und sollte nun in die Tat umgesetzt werden.
Etwas später verzogen wir zwei uns in die Bar hinein, da es draußen nun doch etwas zu kalt wurde. Wir redeten und redeten bis kurz vor zehn Uhr.
Auf dem Rückweg zur Herberge sagte ich zu Antje: „Bleib mal kurz stehen!“
Ich drückte sie und sagte: „Danke!“
„Wo für?“ Fragte sie.
„Für´s Zuhören, für die letzten Wochen in Frankreich, einfach für alles!“
So legten wir uns schließlich in unsere Schlafsäcke und versuchten zu schlafen. Um Punkt zehn Uhr, wurde das Licht ausgemacht und die Tür verschlossen. Wer da nicht da war, hatte Pech und musste draußen pennen.
Einige wedelten noch mit ihren Stirnlampen herum, aber gegen halb elf war dann alles aus und jeder begann zu grunzen.
Leider konnte ich gar nicht einschlafen, erst so gegen ein Uhr, da mir viele Dinge der vergangenen Zeit (hier auf den Jakobsweg) durch den Kopf schossen.
Tag 66 – 22.05.2014 – Zubiri (22km)
Ann zog nach dem Aufstehen gleich los. Antje lud mich zum Abschluss ihrer Pilgerreise noch in ein kleines Café ein. Hier trank ich, nach zwei Jahren, mal wieder einen Cola Cao (der spanische Kakao).
An der Kirche von Roncesvalles ließen wir von uns beiden noch ein Abschiedsfoto machen. Danach folgte der schwerste Abschied der vergangenen Zeit. Wir umarmten uns noch einmal und sagten gegenseitig Danke. Nicht nur mir rollten dabei ein paar Tränen die Wangen herunter.
Schließlich zog ich los auf den Jakobsweg durch Spanien und Antje zurück zum Café. Von hier aus holte sie später ein Taxi ab und brachte sie wieder nach Saint-Jean-Pied-de-Port, wo am darauffolgenden Tag ihr Zug zurück nach Deutschland fahren sollte.
Auf den ersten Kilometern konnte ich weitere Tränen einfach nicht unterdrücken. Antje war für mich eine wirklich gute Pilgerfreundin gewesen.
Im ersten Dorf traf ich auf Ann und wenig später auf das deutsche Paar mit Kind. Ann und ich machten in Viscarret Pause in einer Bar. Hier aß ich mein erstes spanisches Bocadillo mit Tortilla.
Durch einen Wald und über Steinwege führte uns der Weg ständig bergauf und bergab.
An der Passhöhe Erro (auf 801 Höhenmetern gelegen) hatten wir zwei tolle Begegnungen. Zum einen stand hier ein kleiner Verkaufswagen mit vielen Leckereien und wir trafen den deutschen Pilger Dieter aus Speyer. Er war mit einem Esel und großem Handwagen (umfunktioniert zum Eselanhänger) unterwegs.
Zum Schlafen suchte er sich einfach ein nettes Plätzchen und legte sich in den Wagen, gab er der fragenden Pilgermenge zu verstehen.
Zwei Stunden später, es hatte mal wieder angefangen leicht zu regnen, kamen Ann und ich in Zubiri an. Das Dorf, eigentlich ein wahres Industriedorf, erreicht man über eine Brücke, welche bereits im Mittelalter erbaut wurde und den Beinamen „puente de la rabia“ trug (Brücke der Tollwut).
Um es uns mal richtig gut gehen zu lassen nahmen wir für 15 Euro pro Nase die private Luxus-Herberge „El Palo de Avallano“, das Geld vollkommen wert.
Etwa eine Stunde darauf kamen auch Torsten, Mandy und ihre Enkelin Kaety hier an.
Tag 67 – 23.05.2014 – Pamplona (23km)
Nach einem kleinen Frühstück in der Herberge verabschiedete ich mich von Ann und den anderen drei und machte mich alleine auf den Weg.
Über die Brücke zurück, dann rechts abgebogen und über einen Schotterweg kam ich nach Ilaratz, wobei ein großer Teil der Strecke vorbei an einer riesigen Magnesitfabrik führte und somit nichts fürs Auge war.
Auf Wegen teilweise auch auf einer nicht gerade wenig befahrenen Landstraße kam ich nach Larrasoana.
Weiter ging es zunächst durch einen dichten Wald. Hier fing es an kräftig zu regnen, und wie ich fand, sogar schlimmer als auf den Pyrenäen, zum Glück aber ohne Wind und Hagel. An einer Engstelle, welche links und rechts mit Rosensträuchern begrenzt war, riss ich mich mir dann auch noch zu allem Übel meinen Poncho auf. (In der Herberge von Pamplona, reparierte ich am Abend diesen Riss mit einem Streifen Panzertape.)
Auf der Landstraße erreichte ich gegen elf Uhr Villara, bereits ein Vorort von Pamplona. Von hier aus war es nur noch ein Katzensprung von etwa drei Kilometern bis nach Pamplona. Die Regenwolken klarten wieder auf und es wurde das schönste Sonnenwetter.
Sofort hinter einer Brücke über den Fluss Arga, welcher die Stadtgrenze von Pamplona darstellte, ging es links zur Casa Paderborn. Hier kam ich einige Minuten vor der Öffnungszeit (12 Uhr) an. Während ich vor der Herberge wartete, kamen zwei Pilgerinnen hinzu. Mit ihnen kam ich gleich ins Gespräch. Sie kamen aus den USA, die eine aus Texas, die andere aus Oregon und hießen Kristin und Sherry. Die beiden schüttelten mit dem Kopf und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus als ich auf ihre Frage, wo ich denn gestartet sei, antwortete:
„Vor 66 Tagen in Deutschland.“ Aber was sollte ich machen, es war ja schließlich die reine Wahrheit.
Zwölf Uhr wurde die Tür aufgesperrt und wir konnten eintreten. Nach der Bettzuweisung und dem Bezahlen duschte ich erst und setzte mich dann in den Gemeinschaftsraum um Tagebuch zu schreiben.
Mir kam die Idee, doch einmal nachzufragen, ob Otto in den letzten Tagen hier eventuell übernachtet hatte.
„Kannst du mal nachschauen, ob in den letzten Tagen ein gewisser Otto aus Köln hier übernachtet hat. Mit ihm bin ich mehrere Wochen durch Frankreich gelaufen. Leider verloren wir uns aber in Le-Puy.“ Fragte ich den Herbergsvater Ernst. Er schaute bereitwillig die Listen der letzten Tage durch und siehe da: Otto hatte am 20.05. hier geschlafen, also drei Tage zuvor. „Schon so einen großen Vorsprung. Das hole ich nicht mehr ein.“ Dachte ich mir.
Die Casa Paderborn wird von der Vereinigung „Jakobusfreunde Paderborn“ geführt. Zu meiner Zeit von dem Ehepaar Ernst und seiner Frau Doris. Die beiden waren für drei Wochen hier und hatten einen sehr stressigen Jahresurlaub. Jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen, Frühstück machen, Betten neu beziehen, die Herberge säubern, einkaufen und Wäscheservice für die Pilger. Das alles, sieben Tage die Woche lang.
Am späten Nachmittag sagte Ernst zu seiner Frau: „So, wir sind fast voll. Nur noch drei Betten frei.“ Da kam mir gleich das deutsche Paar mit Kind in den Sinn. Wie es der Zufall wollte, wenige Minuten darauf kamen die Drei tatsächlich hier an.
Etwas später kam eine Schulklasse in die Herberge, zusammen mit ihrem Englischlehrer, wie sich Augenblicke später herausstellte. Die Klasse hatte im Englischunterricht einen Ausflug gemacht, um das Pilgern zu erfahren. Natürlich war auch meine Story (67 Tage unterwegs, von Deutschland gestartet) auf eine Anfrage von Doris hin: „Ob ich denn nicht mal kurz meine Reise erzählen könne?“ der Renner gewesen.
Abends lernte ich zwei Frauen kennen, die bereits seit zwei Tagen hier in der Herberge flach lagen, Doris und Erika. Doris, gerade einmal 28 Jahre jung hatte tierische Rückenschmerzen. Auch durch zwei Schmerzmittelspritzen war wenig Besserung in Aussicht. Erika stürzte ein paar Tage zuvor auf dem Weg hinter Pamplona und war nun wieder hier gelandet, um sich noch ein wenig auszukurieren.
Erika bekam am Nachmittag die Geschichte mit Otto mit und sagte zu mir: „Ich habe Otto hier getroffen. Er erzählte von dir und äußerte sein kleines Bedenken, dass er dich wohl nicht wieder einhohlen würde.“
„Wie kommt Otto denn auf den Gedanken, dass ich schneller sei als er. Er war doch immer der Überflieger.“ Dachte ich.
Es war bereits 19 Uhr, ich saß immer noch bzw. wieder im Gemeinschaftsraum da liefen auf der Straße vor der Herberge zwei hübsche jungen Mädels (etwa mein Alter) vorbei, die anscheinend noch hier rein wollten. „Doris, ich glaube, da kommen noch zwei Pilgerinnen an.“ Sagte ich zur Herbergsmutter.
„Wir sind leider schon voll!“ Sagte sie zu ihnen, da die beiden Deutsche waren. „Aber ich kann gerne in der städtischen Herberge anrufen und euch zwei Betten reservieren.“
Dieses Angebot nahmen sie dankend an und liefen einige Augenblicke und einen Anruf später wieder los.
Zehn Uhr wurden dann alle in ihre Betten gescheucht und das Licht gelöscht.
Tag 68 – 24.05.2014 – Puente la Reina (24km)
Punkt sechs Uhr wurden wir Pilger von wohlklingender Musik geweckt. Gegen sieben Uhr fiel es mir schwer, die Herberge zu verlassen. Ich verabschiedete mich von Doris, ihrem Mann Ernst und wünschte den beiden kranken Pilgerinnen Doris und Erika noch gute Besserung und baldige Genesung.
Nach ca. 200 Metern vermisste ich etwas. Das „herumschleudern“ meines Brustbeutels inkl. meines Portemonnaies. Kein Wunder ich hatte den am Abend zuvor unter mein Kopfkissen gelegt und dort total vergessen. Also lief ich schnell zurück und holte ihn. Die vier waren etwas verwundert, mich so schnell wieder zu sehen.
Danach ging es richtig los. Durch die halbe Stadt hindurch und über einen leicht bergauf führenden asphaltierten Gehweg kam ich nach fünf Kilometern in Cizur Menor an. Hier stand im Ortszentrum ein Reisebus und ließ gerade eine riesige Menge an Touristen-Pilgern aussteigen.
Auf einem Feldweg führte der Jakobsweg durch das kleine spanische Dorf Zariquiegui bis auf die Passhöhe Alto del Perdon auf 740 Höhenmetern gelegen.
Die große Gruppe an Touristen-Pilgern hing mir bis hier oben im Nacken. Für die erschöpften Leute stand schon der Bus da und hielt kalte Getränke bereit.
Trotz allem hatte man hier oben einen wunderbaren Blick zurück auf Pamplona und auf das nicht mehr weit vor mir gelegene Puente la Reina.
Zudem zeigte dieser Gipfel noch zwei Sehenswürdigkeiten. Einen Windpark mit 40 gigantischen Windrädern zur Stromerzeugung und die eiserne Skulptur eines Pilgerzugs. Letztere wurde von der navarrischen Wasserkraft- und Windanlagengesellschaft gestiftet, um die Aussicht nicht zu stark von den Windrädern beeinträchtigen zu lassen.
Nun ging es über einen steinigen Weg bergab nach Uterga. Mitten in diesem Abschnitt lief vor mir das deutsche Paar mit Kind. Zusammen bewältigten wir die restlichen zehn Kilometer durch die Dörfer Muruzábal und Obanos nach Puente la Reina fast spielerisch.
Die kleine Kaety konnte auf diesem Stück fast keine fünf Minuten lang ihren Mund halten. „Sie ist heute einfach zu wenig selber gelaufen.“ Sagte Torsten. Ich fand es jedoch immerhin recht lustig.
Direkt am Ortseingang befand sich eine private Herberge, aber nur gute 500 Meter weiter gleich die kirchliche. Fünf Euro für ein gutes Bett reichten auch. Wir vier kamen alle hier unter.
Als ich das mir zugewiesene Zimmer betrat, war hier auch nur noch ein Bett frei. Zwei andere Schlafmöglichkeiten waren von zwei jungen Frauen eingenommen worden.
„Die beiden kennst du doch irgendwoher?“ Dachte ich. Ein paar Gedankensprünge später fiel es mir ein. Die beiden waren die zwei, welche am Vortag noch spät abends in die Casa Paderborn wollten.
„Seit ihr gut in der städtischen Herberge untergekommen?“ Fragte ich spontan.
„Ja und da war auch noch genügend Platz.“
Ich: „Wie heißt ihr beiden denn?“
Die eine: „Anna“
Ich: „Und du?“ (und deutete auf die andere)
„Auch Anna“.
Nicht nur die Namen stimmten überein. Beide hatten auch den gleichen Rucksack, nur in je einer anderen Farbe, trugen das gleiche Model ihrer Wanderschuhen und waren Beide erst Anfang 20.
Anna H. und Anna K. hatten sich in Bilbao am Busbahnhof kennengelernt und waren gemeinsam nach Pamplona gefahren. An diesem Tag hatten sie somit ihren ersten Pilgertag.
Natürlich waren auch die beiden überrascht, als ich erzählte, dass ich vor fast 70 Tagen in Deutschland gestartet war.
Beim Abendessen, welches mal wieder Selbstversorgung war, kam ich mit Anna und Anna weiter ins Gespräch.
Beide waren Studentinnen, bzw. haben bereits fertig studiert, eine in Hamburg und die andere in Jena.
„Jena, jene Stadt, aus der ich einst gestartet war.“ Schoss mir in den Kopf.
Beide sind nur durch Zufall -„Ach ich könnt ja mal den Jakobsweg laufen“- hier gelandet und haben nun vor den ganzen oder zumindest einen Teil zu pilgern. Die jüngere der beiden Annas, Anna K. hat leider nur die Zeit um bis nach Fromista zu kommen. Die zweite, Anna H. wollte, wenn alles gut geht, bis nach Santiago bzw. weiter bis nach Finisterre kommen.
Tag 69 – 25.05.2014 – Estella (22km)
Zusammen mit Anna und Anna brach ich an diesem Tag gegen sieben Uhr auf. Spontan lud ich die beiden auf dem Weg durch Puente la Reina zum Café ein. Diese Einladung schlugen sie nicht ab. So kam es dann schließlich dazu, dass wir den ganzen Tag zusammen gepilgert sind.
Über die berühmte Brücke hinweg waren wir schnell aus dem Ort raus und liefen auf einer Schotterpiste zunächst nach Maneru und dann nach Cirauqui.
Cirauqui war für mich eines der schönsten Dörfer, welche ich auf den gesamten Weg durchlaufen hatte.
In einem Torbogen am Ortsplatz machten wir eine kleine Frühstückspause.
Auf einer Bank schräg gegenüber saßen mit Erstaunen das deutsche Paar mit Enkelin und machten ebenfalls Pause. Ich grüßte die drei freundlich und wir redeten kurz miteinander.
Torsten sagte mit rauer Stimme: „Sag mal, du hast uns doch erzählt, dass eigentlich nie was wegkommt, wenn man seine Kleidung zum Trocknen auf die Wäscheleinen hängt?!“
„Ja, hab ich.“ gab ich zu.
„Uns haben die doch glatt in Puente eine Mütze und zwei Handtücher geklaut.“
„Also ehrlich; gehört so was auf den Jakobsweg?“ Fragte ich mich.
Sechs Kilometer weiter kamen wir in Lorca an und machten hier eine etwas längere Pause in einer gemütlichen Bar.
Parallel zur Landstraße führte der Camino uns auf einem Schotterpfad nach Villatuerta, wo wir unglücklicherweise von einem Gewitter mit Starkregen mehr oder weniger überrascht wurden. Mit dem Regen im Gepäck ging es die restlichen Kilometer bis nach Estella weiter.
In einer Straßenunterführung kurz vor der kleinen Stadt stellten wir uns etwas unter, um darauf zu warten, dass eventuell der starke Regen aufhörte. Es musste ja nicht gleich ganz aufhören. Einige Augenblicke später kamen Torsten und Mandy mit Kaety im Wagen angeschossen und liefen wie von der Tarantel gebissen an uns vorbei. Ich hörte nur noch, wie er sagte: „Egal, es ist eh schon alles nass.“
Recht hatte er und so machten wir uns auch wieder auf den Weg.
In Estella angekommen, kam mir die spontane Eingebung es für diesen Tag mal genug sein zu lassen und eine Herberge aufzusuchen. Anna und Anna schlossen sich dem an. In der städtischen Herberge fanden wir freie Betten in einem relativ großen Schlafsaal, der jedoch mit leichten Trennwänden in Vierer und einige Sechser Abteile geteilt war.
Obwohl Sonntag gewesen war, hatten wir großes Glück und fanden in einer Fußgängerzone einen offenen Supermarkt. Nicht sehr groß, hatte dieser jedoch alles, was wir für ein Abendessen benötigten: Wurst, Käse, Tomaten und Brot.
Am Abend wurde es dann doch noch sehr freundlich und ich hatte einen wunderbaren Blick auf die im Sonnenlicht schimmernden Berge rund um Estella.
Tag 70 – 26.05.2014 – Los Arcos (22km)
Meine beiden Pilgerfreundinnen und ich brachen gegen halb acht Uhr auf und liefen erst einmal eineinhalb Kilometer bis zu einer Tankstelle, wo wir ein kleines leckeres Frühstück bekamen. Weiter aus der Stadt heraus kamen wir vorbei an der Weinkellerei „Bodegas Irache“. Da der Wein in dieser Gegend so günstig ist, wurde hier ein Brunnen gebaut, aus dem doch tatsächlich Wein fließt. Viele Pilger genossen hier ein Schluck und dies bereits am Vormittag.
Auf einer gut zulaufenden Schotterpiste kamen wir durch Ayegui und nach etwa sieben Kilometern nach Villamyor de Montjadin. Mittagspause!
Die dann folgenden 13 Kilometer nach Los Arcos waren nicht die besten. Über eine Schotterpiste führte der Weg entlang von Feldern kreuz und quer, bergauf und bergab, aber im Grunde doch immer nur geradeaus.
Auf einer Anhöhe fing Anna H., wie aus dem Nichts an zu weinen.
„Was ist los?“ Fragte ich.
„Mir sind gerade ein paar alte Gedanken hochgekocht, über die man einfach nur weinen kann. Und wenn ich diese Weite sehe, dann …“
Ich erzählte ihr, dass es (fast) jedem Pilger mal so gehen würde, dass ihm alte längst vergessene Gedanken wieder in den Sinn kommen. Dem einen früher, dem anderen erst später auf dem Weg und manch einem vielleicht nie. Zum einen war es gut, dass sich so was bereits nach drei Tagen bei ihr zeigte, zum andern schlecht, da sie ja noch ihre ganze Reise vor sich hatte.
„Weißt du. Mir ging es bei meiner langen Reise bisher bereits einige Male so, dass Zeug aus meiner Vergangenheit wieder zum Vorschein kam. Dinge, die ich längst vergessen hatte und auch nicht wieder haben wollte. Jedoch konnte ich es immer relativ schnell wieder verarbeiten, wenn ich mit andern Leuten darüber redete.“ Damit versuchte ich ihr gut zuzureden.
„Also, wenn du mal reden willst, dann sag es einfach. Ich kann auf Durchgang schalten.“
„OK, …“ Sie erzählte vieles, wovon ich jedoch nur einen geringen Teil mitbekam.
In ihren Augen und an ihrer Gestik sah ich jedoch, dass es Wirkung zeigte und es ihr schon kurze Zeit später besser ging.
Bei vielen Pilgern tut sich erst in den letzten Tagen ihrer Reise was im Kopf oder vielleicht auch gar nicht und bei manchen kommt dies schon nach drei Tagen.
Als ob das noch nicht schlimm genug für sie war, fing nun zusätzlich ihr Knie noch höllisch an zu schmerzen.
Endlose Schritte später kamen wir in Los Arcos an und zogen sofort in die Casa Austria, welche von der österreichischen Pilgerbruderschaft geführt wurde.
Eine reichliche Stunde später kamen auch Torsten, Mandy und die kleine Kaety hier an. Die drei hatten in Estella in einer privaten Herberge übernachtet.
Da die Knieschmerzen bei Anna H. auch zum Abend hin nicht merklich besser wurden, fragte sie den Hospitalero Conrad um Rat. Er war seinerseits Physiotherapeut und kam schnell zu einer Diagnose: Überlastung!
„Du machst das erste Mal eine solche Langstreckenwanderung und bist einfach in den ersten Tagen viel zu viel gelaufen.“ Sagte er zu ihr.
So entschloss sie sich am folgenden Tag mit dem Bus nach Logrono zu fahren, um sich auszuruhen und um uns ein Bett zu reservieren, sodass wir auf den bevorstehenden 30 Kilometern nicht hetzen mussten.
Am Abend lernten wir die beiden Deutschen Pilgerinnen Carola und Franziska kennen. Gemeinsam kochten wir, naja besser gesagt nur Anna K., Nudeln mit vegetarischer Soße.
Carola war wie ich bereits das Zweite mal auf dem Jakobsweg unterwegs und konnte mich in vielerlei Hinsicht verstehen, was so manche Begebenheiten auf den Weg anging. Franziska war wie Anna und Anna ein Frischling.
Tag 71 – 27.05.2014 – Logrono (29km)
Von Los Arcos lief ich zusammen mit Anna K. alleine los. Die andere Anna und Franziska fuhren später mit dem Bus nach Logrono und die gute Carola startete irgendwann hinter uns.
Auf einer kleinen Landstraße kamen wir zunächst nach Torres del Rio. In einer kleinen Bar am Dorfplatz spendierte ich Anna, einen Cola Cao. Als wir da so saßen, kam Eugen vorbei. Ihn hatte ich einige Tage früher in Pamplona in der Casa Paderborn kennengelernt und nun sahen wir uns mal wieder. Ich fragte, ob er denn wüsste, was mit den beiden kranken Frauen Doris und Erika geworden sei. Er erzählte, dass er Erika, die kurz hinter Pamplona gestürzt war, hinter Puente la Reina getroffen hatte. Doris, habe er jedoch auch nicht wieder gesehen.
Ziemlich genau in Torres del Rio lag leider bereits die Hälfte der mir unbekannten Strecke des Camino Francés (Saint-Jean nach Burgos) hinter mir.
Zwischen Torres del Rio und Viana liefen wir durch ein etwas hügeligeres Gebiet. An einigen Stellen kam es mir so vor, als liefe ich durch die Connemara-Landschaft an der irischen Westküste.
Auf eine Mittagspause in Viana folgten schließlich noch ein paar Kilometer auf einer Schotterpiste, bevor es kurz vor Logrono wieder auf eine asphaltierte Strecke ging. Hier führte der Jakobsweg leicht bergab und von weitem sah man bereits ein schönes Häuschen mit einem Stand davor. Die Tochter der berühmten Dona Felisa, welche 13 Jahre zuvor, den Pilgerausweis von Hape Kerkeling abstempelte, stempelte nun auch unsere Pässe ab.
Anna H. und Franziska hatten sich in Logrono bereits um ein Zimmer in einer privaten Herberge gekümmert und so mussten wir auch nicht lange suchen.
Diese Herberge war mal wieder ein echter Hingucker auf dem bisherigen Weg. Nicht wegen der Optik, sondern wegen der Ausstattung. Ein eigenes Zimmer für uns vier, mit eigenem Bad inkl. Duschzeug und Handtücher und wieder mal richtige Betten.
Beim Stadtbummel sah ich das deutsche Paar mit Kind vor einem Fastfood-Laden sitzen und genüsslich speisen. „Wir hatten einfach mal wieder Appetit darauf!“ Gaben sie mir als Antwort auf meinen überraschten Gesichtsausdruck.
Am Abend saß ich noch mit Anna H. und Franziska in einer Bar und trank ein Gläschen Wein. Dabei versprach in den beiden egal, mit wem ich am Donnerstagabend zusammensitzen würde, diese Person/en würde ich einladen. Beide schauten mich verdutzt an und fragen, ob ich denn da Geburtstag hätte?
„Nein, aber am kommenden Donnerstag sollte ich eigentlich meine 2000-Kilometer-Marke überschritten haben.“
Tag 72 – 28.05.2014 – Najera (31km)
Gegen halb acht Uhr machten wir uns wieder zu viert auf den Jakobsweg. Anna, Anna, Franziska und ich.
In einem netten kleinen Café am Stadtausgang machten wir Frühstückspause.
Auf einem Radweg kamen wir vorbei an einem See und liefen später auf Feldwegen entlang der Autobahn bis nach Navarrete. Der Zaun, welcher den Feldweg von der Autobahn abgrenzte, trug zahlreiche Kreuze. Hier befestigte auch ich ein Kleines aus den herumliegenden Holzzweigen.
Einige Minuten später trafen wir auf Torsten, Mandy und Kaety. Er erzählte mir, dass sie versuchen, würden in Burgos ihren Kinderwagen loszuwerden. Kaety könnte 15 Kilometer am Tag gehen und so kämen sie auch irgendwann in Santiago an.
„Sie kann zwar 15 Kilometer am Tag laufen, aber Tag für Tag?“ Dachte ich, äußerte aber dieses Bedenken nicht. War es ein Fehler, dies nicht zu tun?
Anna K. und ich bemerkten, dass Franziska und Anna H., die seit einiger Zeit etwas vor uns liefen, nicht mehr zu sehen waren. So liefen wir beide dann alleine weiter.
Navarrete war ein kleines nicht wirklich sehenswertes Städtchen. An einer Kreuzung sahen wir Anna H. Sie lief im Laufschritt zu einem Bus und weg war sie.
Einige Zeit später, ich und Anna K. waren mittlerweile auf einen Feldweg hinter Navarrete, bekam sie eine SMS von der anderen Anna.
„Bin in Najera und habe für euch Betten in einer Herberge reserviert.“
Wenige Kilometer darauf, es hatte wieder angefangen zu regnen, liefen wir an einem kleinen Ruhe-Paradies für Pilger bzw. Wanderer vorbei. Eine Grünfläche mit mehreren Pavillons und Bänken. Hier stand, unter einem der Pavillons, Franziska mit ein paar anderen Pilgern. Sie würden sich nun ein Taxi rufen und bis nach Najera fahren. „Wollt ihr mitkommen?“ Fragten sie uns. Tatsächlich dachte ich kurz darüber nach, ob ich denn nicht mitfahren sollte. Dann fiel mir aber mein Ziel „den ganzen Weg auf meinen Füßen zu bewältigen“ wieder ein. Also ging ich mit Anna weiter.
So liefen wir schließlich durch das „Tal der Steinmännchen“, wie es Hape Kerkeling in seinem Buch beschrieb. Aufgrund dieser Erläuterungen hatte ich es mir allerdings wesentlich größer vorgestellt. Es waren jedoch nur ca. 20 am Wegesrand befindliche Steinpyramiden, die einige Pilger aufgetürmt hatten.
Die letzten Kilometer mussten wir leider wieder auf einer Landstraße durch ein Industriegebiet bewältigen. Eines erstaunte mich hier, ein deutsches Gedicht. Es stand auf einer Betonmauer eines alten Gebäudes. Obwohl ich nicht wirklich gläubig bin, glaubte ich doch fast alles, was da stand.
Staub, Schlamm, Sonne und Regen.
Das ist der Weg nach Santiago.
Tausende von Pilgern
und das mehr als tausend Jahre.
Wer ruft Dich, Pilger?
Welch geheime Macht lockt dich an?
Weder ist es der Sternenhimmel,
noch sind es die großen Kathedralen.
Weder die Tapferkeit Navarras,
noch der Rioja Wein.
Nicht die Meeresfrüchte Galiciens
und auch nicht die Felder Kastiliens.
Pilger, wer ruft Dich?
Welch geheime Macht lockt Dich an?
Weder sind es die Leute unterwegs.
Noch sind es die ländlichen Traditionen.
Weder Kultur und Geschichte,
noch der Hahn von Santo Domingo.
Nicht der Palast von Gaudi
und nicht das Schloss Ponferradas.
All dies sehe ich im Vorbeigehen
und dies zu sehen ist ein Genuß.
Doch die Stimme, die mich ruft,
fühle ich viel tiefer in mir.
Die Kraft, die mich voran treibt,
die Macht, die mich anlockt,
auch ich kann sie mir nicht erklären.
Dies kann allein nur ER dort oben. (E.G.B.)
Das, was mich anlockt, war nicht etwa Gott oder eine fremde Macht. Nein, es war ganz allein nur ich selbst. Ich selbst war es, der sich bereits 72 Tage vorwärtstrieb und dies, auch noch weitere fast vier Wochen tun würde.
In Najera angekommen, wartete Anna H. bereits auf uns und zeigte uns unsere Betten. Auch Franziska war schon eingetroffen. Gut, ein Taxi ist ja auch schneller als ein Fußpilger.
Am späten Nachmittag schrieben wir im Gemeinschaftsraum unsere Tagebücher.
„Ich hätte jetzt kein Problem damit, wenn meine Reise hier und heute zu Ende wäre!“ Dies sagte ich auf eine Frage (keine Ahnung was für ein das gewesen war) von Anna K. hin.
Ich konnte kaum glauben, dass ich dies gesagt hatte. War es denn wirklich nicht mehr wichtig gewesen, das Ziel, mein Ziel zu erreichen. Das Ende der Welt.
Wenn ich jedoch nach Hause gefahren wäre, dann hätte ich mich bestimmt monatelang geärgert.
Später bemerkten wir, dass am anderen Ende des Tisches eine Familie mit Baby saß. Wir unterhielten uns kurz mit ihnen. Die Kleine war gerade einmal viereinhalb Monate alt. Großartige Leistung der Eltern, so ein Vorhaben zu meistern.
Am Abend schlossen wir noch Bekanntschaft mit dem Deutschen Martin. Er war Mitte 20 und kam aus dem kleinen Dorf Bernkastel-Kues in Rheinland-Pfalz und war zusammen mit zwei älteren Herren unterwegs, Wolfgang und Charly.
Anna und Anna werde ich eventuell noch bis zum Eintritt in die Meseta, kurz hinter Burgos begleiten. Da werde ich dann versuchen innerhalb von zwei Tagen wieder raus zukommen (zweimal ca. 40 Kilometer).
Tag 73 – 29.05.2014 – Santo Domingo de la Calzada (21km)
Ohne ein Frühstück liefen wir drei die ersten sechs Kilometer bis nach Azofra. Diese Kilometer waren für mich jedoch ein klein wenig besonders. Zum einen kam ich mir vor, als wanderte ich durch Australien, obwohl ich noch nie dort gewesen war, so stellte ich es mir aber vor und zum anderen waren nun 200 Kilometer auf dem Camino Frances schon hinter mir.
In einer Bar mitten an der Hauptstraße machten wir dann endlich eine Frühstückspause.
Von Zeit zu Zeit liefen wir nicht nur über Feldwege vorbei an riesigen Getreidefeldern, sondern zur Abwechslung mal wieder durch bzw. vorbei an einigen Weinbergen.
In Ciruena machten wir gegen 13 Uhr Mittag. Dieses kleine Dorf bestand eigentlich für mich gesehen nur aus einem einzigen Wohngebiet. Danach machten wir uns auf die letzten sieben Kilometer über einen Feldweg.
Plötzlich kam von hinten eine Schulklasse auf uns zu. Wir ließen sie vorbei ziehen und fragten uns, was denn eine Schulklasse auf dem Camino machte? Gehört das Wandern auf dem Jakobsweg bereits zum Unterricht in Spanien?
Von einer Anhöhe aus sahen wir etwas später, bereits Santo Domingo und es war auch nur noch ein Katzensprung von etwa einer halben Stunde Gehzeit bis zum Stadtrand. Wenige Minuten darauf standen wir schließlich in der Pilgerherberge im alten Kloster.
In der Herberge trafen wir am Abend auch wieder auf Martin und seine beiden älteren Herren.
Beim Rundgang durch die Stadt, bei dem ich die Kathedrale außen vor ließ, da ich mir das Eintrittsgeld sparen wollte, saß auf einer Bank eine mir bekannte Pilgerin. Ann, die Norwegerin. Sie hatte ich seit Zubiri nicht mehr gesehen. Laut ihres dänischen Reiseführers soll die Massenherberge hier in der Kleinstadt die Beste auf den Weg sein. „Schade das ich in der anderen Herberge untergekommen bin.“ Dachte ich. Ein Grund mehr, um noch einmal auf den Weg zu gehen. Auch erzählte sie mir, dass sie sich neue Schuhe kaufen musste und am Vortag mit diesen, dann gleich mal 41 Kilometer bis nach Najera gewandert war. 41 Kilometer mit neuen Schuhen und das von Ann, die in Frankreich noch höllische Fußschmerzen hatte. Hut ab!
Zum Selbstversorger-Abendessen in der Herberge spendierte ich, wie ich es versprochen hatte, den Wein. Denn mit diesem Tag waren 2000 Kilometer Vergangenheit, eine für mich unglaubliche Zahl.
Ich versorgte mich mit einem Baguette, Wurst, Käse und ein wenig Gemüse. Die beiden Annas hatten sich Risotto als Fertiggericht gekauft und waren erstaunt, dass dies im Topf immer mehr wurde. So bekam nicht nur ich noch was davon ab, sondern die beiden bekamen auch noch den jungen französischen Pilger Rémie satt.
Am Abend passierte zum Abschluss des Tages noch das größte Unglück meiner bisherigen Reise. Ich saß zusammen mit Anna, Anna, Wolfgang, Charly und Martin am großen Tisch im Gemeinschaftsraum. Plötzlich stieß ich versehentlich das Weinglas von Wolfgang, der neben mir saß, um und ausgerechnet in meine Richtung. Wie auch immer ich das geschafft hatte? Der gute Wein ergoss sich über den Tisch, meine Gürteltasche, und wie es kommen musste, auch über mein Tagebuch.
„Sieh‘s doch mal so, das ist jetzt eine bleibende Erinnerung immer, wenn du das Buch aufschlägst.“ Sagte Wolfgang.
Da im Gemeinschaftsraum der Kamin brannte, legte ich meine Sachen zum Trocknen davor.
Anna K. hatte sich in den letzten Tagen ihre Fersen und Waden etwas aufgescheuert. Martin meinte, es könnte daran gelegen haben, dass sie das Leder ihrer Wanderschuhe nicht vertragen hatte. Er und Wolfgang kamen auf eine zündente Idee. Sie klebten Panzertape an und in den Schafft ihrer Wanderschuhe, sodass eine direkte Berührung mit dem Leder vermieden wurde.
Dies half perfekt, denn bereits einige Tage später war alles wieder gut.
Panzertape, das Allzweck-Werkzeug. Martin hatte sich daraus auch schon mal eine stabile Hängematte gebaut.
So ließen wir alle dann den Abend ruhig und gelassen ausklingen.
Tag 74 – 30.05.2014 – Belorado (23km)
Granón, sieben quälende Kilometer entlang der Autobahn und einer Nationalstraße lagen in diesen beschaulichen Dörfchen bereits in den Beinen von uns drei.
Kurz vor dem Dorf sah ich im Augenwinkel die Sonne aufgehen. Als ich mich umdrehte, kamen mir fast die Tränen. Was war das für ein schöner Sonnenaufgang?
Nun verstand ich auch die Textpassage von Hape Kerkeling, als er kurz vor Santiago gewesen war und einen Sonnenaufgang fotografierte, „Das Bild meiner Seelenlandschaft.“
Auf eine Frühstückspause folgten zunächst zwei Kilometer bis zu einer riesigen Informationstafel, welche uns zeigte, dass wir nun die Region Rioja verlassen und nach Kastilien/Leon kamen.
Rioja, die dritte Region, nach dem Baskenland und Navarra, war nun auch Geschichte.
Immer weiter ging es über einen Feldweg immer in der Nähe der Autobahn, sechs Kilometer bis nach Viloria. Von dort wollten die beiden Annas mit dem Bus weiter nach Belorado fahren. Also lief ich voraus, mit dem Versprechen, dass ich zwei weitere Betten reservieren würde, sollte ich früher als die beiden in Belorado ankommen.
So lief ich die folgenden drei Kilometer nach Villamayor, seit Tagen mal wieder alleine. Es war schon ein komisches Gefühl gewesen, wenn man sich mit anderen Pilgern so gut verstand.
Kurzer Hand entschloss ich mich in Villamayor in einem, der Optik nach höherwertigen, Restaurant eine Pause zu machen. Zufall oder Schicksal, ich traf auf Martin, Wolfgang und Charly.
Wenige Minuten später sah ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite Anna und Anna laufen. „Was war denn nun los?“ Leider war die Busverbindung so schlecht, dass sie die Wahl hatten, entweder in Villamayor zu bleiben oder noch fünf Kilometer nach Belorado zu laufen. „Trampen wäre auch eine Idee.“ Diese eher sinnlose Äußerung verkniff ich mit aber.
Einen kurzen Regenschauer später machten wir uns dann schließlich zu sechst auf das letzte Stück.
In der urigen traditionellen Privatherberge „Cuarto Cantones“ bekamen wir jeder ein freies Bett.
Zu meiner Überraschung tauchen etwas später nicht nur Carola und Franziska auf. Die beiden waren an diesem Tag von Ciruena aus gestartet, hatten also etwas mehr als 30 Kilometer bewältigt, sondern auch Kristin und Sherry, die beiden Frauen aus den USA. Was für ein Zufall, die beiden hatte ich ja seit Pamplona nicht mehr gesehen. Sie begrüßten mich freundlich mit einem: „Hi Daniel, heute ist dein 73. Tag?“
Ich korrigierte sie: „Nein, Tag Nummer 74. Schön euch wieder zu sehen.“
In der Herberge lief ich die ganze Zeit über barfuß, das Gesündeste, wenn man den ganzen Tag in Wanderschuhen unterwegs war. Der nette und lustige Hospitalero fragte mich einige Male: „Ist dir nicht kalt an deine Füße?“ (Er konnte gutes Englisch)
Ich: „Nein nein, das ist gut so.“ Ihm fröstelte es immer bei diesem Anblick.
Kurz nach 16 Uhr kam ein deutsches Paar auf der Straße vor der Herberge entlang gelaufen und fragten hier nach einem Bett. Beide hatten mit Fußproblemen zu kämpfen, aber zum Glück war dies ihr letzter Tag.
Bei der Ankunft half ich den beiden bzw. dem Hospitalero noch beim gegenseitigen Übersetzen. Aus Spaß sagte er, dass ich doch Geld für diese Dienstleistung verlangen könnte. „Ach nein, warum denn. Man sollte sich doch als Pilger gegenseitig helfen.“
In der kleinen Gemeinschaftsküche war am Abend ein ziemliches Gewusel. Eine Schulklasse aus einer Walddorfschule, schlief ebenfalls hier in der Herberge und machten sich nun ihr Abendessen. Schüler zwischen 11 und 13 Jahren stellte sich später heraus. Sie waren auf Klassenfahrt und liefen von Logrono bis nach Burgos.
„Super Klassenfahrt. Würde so etwas auch eine deutsche Schulklasse mal machen?“
Tag 75 – 31.05.2014 – Ages (28km)
Über eine Brücke über den Fluss Tirón verließen wir drei zusammen mit Martin gegen sieben Uhr Belorado und liefen knappe fünf Kilometer nach Tosantos. Eigentlich wollten wir hier in einer kleinen Bar frühstücken. Jedoch wurde aus diesem Plan nichts, denn die Bar machte erst um halb neun Uhr auf. Entweder eine halbe Stunde warten oder zwei Kilometer weiter marschieren, stand für uns zur Wahl. Wir liefen weiter und hofften, dass die Bar in Villambistia bereits geöffnet hatte. So war es dann auch und wir konnten endlich frühstücken. Milchkaffee, Kakao und Bocadillos ließen wir uns schmecken.
Durch Felder hindurch führte uns der Jakobsweg nach Villafranca Montes de Oca. Da es inzwischen wieder angefangen hatte zu regnen, suchten wir in einer Bar am Straßenrand für einige Minuten ein trockenes Plätzchen.
Wenige Augenblicke darauf kamen auch Carola und Franziska hier an. Anna, Anna und Franziska bestellten sich von hier aus ein Taxi, da sie sich aufgrund ihrer Knie die Oca-Berge ersparen wollten. Wir vereinbarten, dass wir uns in Ages wieder treffen wollten und die drei versprachen uns, dass sie für uns reservieren würden.
Zusammen mit Martin und Carola machte ich mich schließlich auf den Weg über die Oca-Berge, zu deutsch: Gänseberge. Der Weg führte steil bergauf über einen Feldweg bis zu einem Bürgerkriegsdenkmal von 1936. Auf einer Schlammpiste ging es fast zehn Kilometer weiter bis nach San Juan de Ortega. Etwa auf der Hälfte dieses kleinen Abschnittes klingelte plötzlich mein Handy. Ich war etwas erstaunt, als ich drauf schaute und sah, wer denn da etwas von mir wollte. Otto! Ihm hatte ich am Vortag mal eine SMS geschrieben, um zu fragen, wo er denn derzeit steckt.
„Hallo Daniel. Ich sitze bei einem kühlen Bier auf der Terrasse meiner Herberge in Sahagun zwei Tage vor Leon.“
Er war schon in Sahagun, das waren etwa fünf Tage vor mir. „Dies würde ich nicht wieder aufholen können“ Das wusste ich.
In San Juan de Ortega angekommen trafen wir auf Wolfgang und Charly. Die beiden waren schon etwas länger hier und hatten sich bereits in einer Herberge niedergelassen.
Nun war es nur noch ein einstündiger Marsch bis nach Agés.
In der Herberge von Agés warteten die Anderen bereits auf uns und so ließen gemeinsam den Tag ausklingen.
Beim Abendessen begegneten mir auch wieder Torsten, Mandy und Kaety. Die drei hatte ich bereits seit Tagen nicht mehr gesehen. Sie schliefen in der öffentlichen Herberge, bekamen dort jedoch nichts zu essen.
Tag 76 – 01.06.2014 – Burgos (24km)
Zu sechst starteten wir an diesem Morgen in den Tag. Gemeinsam läuft es sich einfach besser und so lagen die ersten drei Kilometer nach Atapuerca schnell hinter uns. Nach einer Pause ging es weiter über einen Geröllfeldweg etwa 100 Höhenmeter nach oben, bis zum Gipfel des 1100 Meter hohen Hügels Matagrande. „Hier oben hat man, bei schönen Wetter, bestimmt eine gute Sicht auf Burgos“, dachte ich, als ich am Gipfelkreuz stand.
Auf Feldwegen kamen wir durch die kleinen Dörfer Villalval, Cardenuela-Riopico und Orbaneja-Riopico bis zu einer Autobahnunterquerung. Hinter dieser war auch bereits der Flughafen von Burgos zu sehen.
Hier ging es entlang des Flughafengeländes, durch das Vorstädtchen Villafria, dem Zentrum von Burgos immer näher.
Endlose Kilometer liefen wir auf Gehwegen ins Altstadtzentrum, bis kurz vor die Kathedrale. Die letzten Meter kamen mir bereits sehr bekannt vor. Kein Wunder Burgos war damals im Jahre 2012 mein Stadtpunkt des ersten Jakobsweges. Obwohl ich zwei Jahre zuvor nur in der Morgendämmerung hier lang gelaufen bin, erkannte ich doch viele Stellen wieder.
In der öffentlichen Herberge bekamen wir für fünf Euro pro Kopf ein gutes Bett. Im Erdgeschoss der riesengroßen Herberge stand auch bereits der Kinderwagen von Kaety. „Siehe da die sind also auch bereits hier angekommen.“
15 Uhr ging ich zusammen mit Carola in die Kathedrale. Der Eintritt für Pilger kostete nur die Hälfte des normalen Preises (3,50 € statt 7 €, inkl. Audio-Guide in beliebiger Sprache).
Beim Rundgang wurde der doch so gute Eindruck des äußeren Erscheinungsbildes dieses Bauwerkes leider etwas vernichtet. Die innere Gestaltung sagte mir einfach gar nicht zu. Es gab nicht einmal die Möglichkeit eine Kerze anzuzünden oder wenigstens eine elektrische. Dabei hätte ich so gerne hier und an diesem Tag eine angebrannt, zum Gedenken an meine Oma. Sie war am 01.06.2011 von uns gegangen.
Vor der Kathedrale traf ich, wie konnte es anders sein, auf das deutsche Paar mit Enkelin.
Anschließend zog ich alleine weiter, die Stadt zu erkunden. So kam ich auch an zwei Kirchen vorbei und versuchte hier mein Glück mit der Kerze. Beide waren jedoch verschlossen. Bei der darauffolgenden dritten Kirche, San Nicolás, oberhalb der Kathedrale gelegen, hatte ich endlich Glück. Es waren zwar nur elektrische Kerzen, aber immerhin etwas.
Kurze Zeit später traf ich auf einen Platz neben dem Santa-Maria-Tor auf Anna, Anna und Martin und gesellte mich noch ein wenig zu ihnen.
Am Abend gingen wir vier noch eine Kleinigkeit essen und ließen dann den Tag gemütlich in einem Irish Pub ausklingen.
Ich beschloss, noch zwei Tage (bis nach Castrojeriz) mit den Anderen zu pilgern und dann doch mal das „Tempo etwas anzuziehen.“