Teil 8 – Burgos bis Rabanal
Tag 77 – 02.06.2014 – Hornillos del Camino (20km)
Unsere Wecker klingelten kurz nach sechs Uhr und so machten wir uns gegen halb sieben zu sechst auf den Weg durch die Stadt; die beiden Annas, Carola, Franziska, Martin und ich.
Immer wieder hielten wir Ausschau nach einer kleinen Bar, in der wir frühstücken wollten. Denn da kannte ich eine schöne am Straßenrand. Leider war die wie vom Erdboden verschwunden. Kurz vor dem Stadtrand von Burgos hatten wir Glück und konnten eine Kleinigkeit essen. Auf einem Schotterweg, welcher uns nach Villabilla de Burgos brachte, trennte sich unsere Gruppe. Franziska lief einige hundert Meter vor uns, Carola einige hundert Meter hinter uns und in der Mitte der Rest. Unter einer Eisenbahnbrücke und etwas später unter einer Autobahn hindurch, waren wir schnell in Tardajos gelandet. Da die spanische Sonne bereits am frühen Morgen kräftig schien, entschlossen wir uns nur wenige Kilometer weiter, in Rabe de las Calzadas, eine Pause zu machen.
Einige Minuten später kam Carola angewackelt.
Der folgende Wegabschnitt hatte es in sich. Der Jakobsweg führte zwar nur über einen fast ebenen Feldweg, mit ein paar kleinen Steigungen oder Gefällen, jedoch dachte man nach jeder neuen Erhebung: Da vorne ist das Dorf. Immer wieder nur Fehlanzeige. Nach über sechs lang gezogenen Kilometern dann endlich der Lichtblick. In einer kleinen Senke befand sich das kleine Dorf Hornillos del Camino. Auf dem letzten Stück ins Dorf trafen wir auf Torsten, Mandy und die kleine Kaety. Sie sagten zu mir: „Wir dachten, du bist schon lang im Dorf oder drüber hinaus!“
Ich: „So schnell bin ich ja nun auch wieder nicht.“
Zwanzig vor eins standen wir in einer privaten Herberge und fragten nach freien Betten. Da kam Franziska die Treppe herunter und deutete der Besitzerin an, dass wir die fünf Pilger sind, für welche sie reserviert habe.
Nun hatten wir noch den ganzen Nachmittag und Abend Zeit, Wäsche zu waschen und Tagebuch zu schreiben. Ich konnte mir auch ein paar Gedanken über die kommenden Tage machen. Ich hatte vor nur noch den folgenden Tag zusammen mit den anderen zu verbringen, danach würden sich unsere Wege wieder trennen.
Im Laufe des Nachmittags kamen immer mehr bekannte Gesichter in die Herberge. Cherry und Kristin, die beiden Frauen aus den USA, Reinhard ein Österreicher, der auf seiner Pilgerreise nebenbei in einem Blog schrieb und John, ebenfalls aus den USA. Allen vieren lief ich seit Pamplona immer mal wieder über den Weg.
Je später es am Abend wurde, desto angenehmer wurden auch wieder die Temperaturen und mir kam eine etwas verrückte Idee.
Ich fragte die Herbergsbesitzerin, ob sie etwas dagegen hätte, wenn ich auf einer Gartenliege draußen im Garten unter freiem Himmel schlafen würde.
„Ist das nicht ein wenig zu kalt?“, fragte sie mich halb englisch und halb spanisch.
„Nein, das wird schon gehen“, sagte ich.
„Na gut, ich lasse die Tür offen. Da kannst du nachts reinkommen, wenn es doch zu kalt wird.“
Ich schnappte mir meinen Schlafsack und noch ein Langarmshirt. Anna H. fragte: „Was machst du denn jetzt?“
„Ich schlafe heute draußen im Garten.“
Sie verdrehte etwas die Augen und sagte noch so: „Na dann gute Nacht.“
Im Garten schob ich mir eine Liege zurecht, polsterte diese mit zwei Sitzkissen und legte meinen Schlafsack darüber.
In der Dämmerung machte der Mann der freundlichen Besitzerin noch etwas sauber oder so, zog sich dann aber schnell ins Haus zurück und es war … ruhig, sehr ruhig.
Man hörte fast nichts, vielleicht mal noch einen Vogel zwitschern oder eine Grille im Feld, aber sonst nur Ruhe.
Mein Blick wanderte nach oben zum Himmel. Es wurde immer dunkler und so sah ich erst einen, dann zwei, später sieben und kurz darauf ganz viele Sterne.
Meine letzten Gedanken, bevor ich einschlief, waren: „Hätte ich heute auch draußen übernachtet, wenn ich weiter gelaufen wäre?“
Auch fiel mir ein, dass die Übersetzung für Compostela „Sternenfeld“ ist (Santiago de Compostela = Santiago unter dem Sternenfeld). Es scheint also was dran zu sein, wenn man draußen schläft.
Tag 78 – 03.06.2014 – Castrojeriz (21km)
„Was für ein tolle Nacht!“, dachte ich beim Aufwachen um 5:45 Uhr. Ich schaute noch einige Minuten dem Verschwinden der Sterne zu, bevor ich zurück ins Haus ging. Im Zimmer fragte mich Carola gleich: „Und gut geschlafen?“
„Das war die beste Nacht der bisherigen Reise.“
Etwas nach sieben Uhr schnürten wir uns unsere Schuhe an die Füße und zogen gemeinsam los.
Elf Kilometer führte der Jakobsweg nur über gut zu laufende Schotterwege, vorbei an der Quelle San Bol mit einem originellen Refugio, nach Hontanas, einem malerisches Dörfchen. Franziska war bereits wieder einige Meter voraus, ich in der Mitte und der Rest irgendwo hinter mir.
Da mein Magen schon seit den frühen Morgenstunden knurrte, holte ich mir in einer Bar im Dorf einen Milchkaffee und ein Stück Tortilla. Wenige Augenblicke später saßen Anna, Anna, Carola und Martin wieder neben mir.
Hinter Hontanas führte der Camino weitere acht Kilometer über Feldwege bis zum Kloster San Anton und am Schluss noch zwei Kilometer auf der Landstraße nach Castrojeriz, einem kleinen Städtchen mit einem über der Stadt thronenden Castillo, einer alten verfallenen Festungsanlage.
Erst in der dritten Herberge, der Gemeindeherberge San Esteban hatten wir Glück ein freies Bett zu bekommen. Franziska und zu meinem Erstaunen auch das deutsche Paar mit Kind waren bereits hier eingetroffen. Nur von Carola fehlte jede Spur. Dies änderte sich auch mit später Stunde nicht. „Sie übernachtet bestimmt irgendwo hinter Castrojeriz“, dachte ich.
Als ich das erste Mal hier in diesem kleinen Städtchen war, zwei Jahre zuvor, wollte ich schon hinauf zum Castillo. Leider kam es damals nicht dazu. An diesem schönen Tag nahm ich mir am Nachmittag die Zeit, den Hügel zu erklimmen.
Von oben hatte ich eine wahnsinnig unglaubliche Fernsicht. Bis zu den schneebedeckten Bergen Nordspaniens, welche die Grenze zum Camino del Norde (dem spanischen Küstenjakobsweg) darstellten.
Franziska blätterte in ihrem Reiseführer, als ich zurück zur Herberge kam. „Wisst ihr, dass der Weg von heute, die Etappe mit spirituellem Tiefgang gewesen war?“
„Na, ob da vielleicht was wahres dran war?“, äußerte ich mich.
Am Abend, ich saß mit leicht ernster Miene auf einer Bank vor der Herberge und schaute in die Ferne, da kam Anna H. auf mich zu und fragte: „Du schaust so bedrückt. Was ist los?“
„Nichts, ich habe mir nur gerade meine vergangenen 78 Tage durch den Kopf gehen lassen“, antwortete ich.
„Kommst du noch mit ein Bier trinken?“
Zusammen mit der anderen Anna, Franziska und Martin gingen wir noch was trinken. Eine kleine Bar, nur wenige Meter von der Herberge entfernt bot sich da super an.
Es dauerte recht lange bevor ich in dieser Nacht im Land der Träume war.
Ging mir nur wirklich so viel durch den Kopf oder was war los? Die Nacht zuvor so gut und jetzt?
Tag 79 – 04.06.2014 – Carrion de los Condes (46km)
Wir brachen gegen sieben Uhr auf in dem Gedanken, dass die Bar gleich um die Ecke offen hatte. Fehlanzeige, auch alle weiteren Bars auf den Weg hinaus aus dem Dorf hatten ebenfalls noch geschlossen.
Einige Meter hinter dem Ort verabschiedete ich mich von der Gruppe (den beiden Annas, Franziska und Martin) und zog meinen Schritt etwas an.
Beim Aufstieg auf den Tafelberg Alto de Mostelare traf ich auf Carola. Auch von ihr verabschiedete ich mich noch und sie rief mir ein „Vergiss mich nicht!“ hinter her.
„Wie könnte ich dich lustige Pilgerin je vergessen?“, gab ich als Rückantwort.
Vom Gipfel des Berges aus hatte man eine tolle Aussicht über die Weite der Meseta.
Mit der Überschreitung dieses Tafelberges erreichte ich die Tierra de Campos, die wahre Meseta.
Sieben Kilometer weiter traf ich, wie hätte es anders sein können, auf Torsten, Mandy und die kleine Kaety (das deutsche Paar mit Kind bzw. Enkelin). Sie fragten mich, wie weit ich denn heute vor habe zu kommen?
„Falls meine Füße mitspielen, dann 46 Kilometer bis nach Carrion de los Condes oder eben irgendwo auf den Weg.“
„Was?“, fragte Torsten überrascht zurück. „46 Kilometer. Na dann los!“
Ich verabschiedete mich und zog weiter, auf dem Jakobsweg vorbei am Kloster San Nicolas nach Itero de la Vega.
Hier machte ich in einer Bar, welche gerade öffnete eine Frühstückspause.
Das kleine Dorf Boadilla del Camino ließ ich links liegen und auch in Fromista hielt ich mich nur so lange auf, wie ich zum Durchlaufen benötigte.
Die anderen würden nur bis hier her laufen, weil Anna K. in Fromista Schluss machte. Für sie ist der Camino leider schon wieder vorbei.
Hinter Fromista betritt der Pilger die sogenannte Pilgerautobahn, einen speziell für die zahlreichen Pilger angelegten Weg, direkt neben der Landstraße P-980.
Durch die Dörfer Poblacion de Campos, Revenga, Villarmentero und Villacazar de Sirga kam ich nach etwas mehr als neun Stunden tatsächlich in Carrion de los Condes an. Die Klosterherberge, in welcher ich zwei Jahre zuvor übernachtet hatte, war leider bereits voll belegt. Also sprang ich in die andere verfügbare kirchliche Herberge. Die Nonne, welche meine Daten aufnahm und meinen Pilgerpass abstempelte, war erstaunt über die Dicke des Passes. Noch mehr staunte sie jedoch, als sie nachschaute, wo ich denn an diesem Tag gestartet war. „Du bist heute in Castrojeriz losgelaufen?“, fragte sie mich auf englisch.
„Ja, das sind 46 Kilometer“, sagte ich ein wenig salopp.
„Bist du verrückt?“ Sie grinste und schaute gleichzeitig immer noch erstaunt.
Eine andere Nonne zeigte mir die Gemeinschaftsküche und dann ein freies Bett in einem 30-Betten-Schlafsaal (alles Einzelbetten).
Beim Bummel durch das Städtchen begegneten mir die beiden Herren, die mit Martin unterwegs gewesen waren, Wolfgang und Charly. In kleiner gemütlicher Runde tranken wir ein Bier und natürlich waren auch die beiden erstaunt darüber, welch lange Strecke ich an diesem Tag gemeistert hatte.
Beim zu Bett gehen, dachte ich: „Wenn es dir morgen gut geht, dann kann man es riskieren, nach Sahagun durchzulaufen.
Das Laufen in der kleinen Gruppe mit Anna, Anna und Martin, sowie gelegentlich noch mit Carola und Franziska war eine Erfahrung wert. Nur ab diesem Tag konnte ich nicht mehr anders: Ich musste weiter. Mein Wunsch war nicht nur bis ans Ende der Welt zu kommen, sondern dort auch zwei bis drei Tage Pause zu haben. Dies konnte ich jedoch nur erreichen, wenn ich etwas mehr als einen Tag herausholte.
Tag 80 – 05.06.2014 – Sahagun (42km)
Zehn vor sieben Uhr verließ ich die Herberge und nahm in einer naheliegenden Bar ein kleines Frühstück zu mir.
Die folgenden 17 Kilometer waren die bisher härtesten. Der Jakobsweg führte hier nur geradeaus, entlang der alten Via Aquitana. Einziger Lichtblick war ein Unterstand.
Dreieinhalb Stunden später hatte ich die Feuertaufe, wie dies mein Reiseführer nannte, hinter mich gebracht und war in Calzadilla de la Cueza angekommen. „Super, dass diese Feuertaufe erst nach 80 Tagen kam“, dachte ich mir.
In einer Bar versorgte ich mich mit einer kalten Cola und einem Bocadillo.
Auf eine Schotterpiste neben der Landstraße ging es weiter über Ledigos nach Terradillos de los Templarios. Etwa zwei Kilometer hinter diesem Dorf bog der Jakobsweg nach links ab und führte von nun an durch endlose Weizenfelder. Wie aus dem Nichts tauchte dann inmitten der Felder das winzige Dorf Moratinos auf. Viel mehr als zehn Häuser waren es nicht gewesen. Das erste gleich ein Hostal mit Bar, sodass ich die Gelegenheit nutzte, noch eine kleine Pause zu machen, um mich für die restlichen knapp elf Kilometer zu stärken.
Ein Thermometer an der Hauswand wollte mir doch glatt weismachen, dass es nur 19 Grad waren. Unmöglich, nicht einmal im tiefsten Schatten.
Weiter durch die Felder, über das Dorf San Nicolas, verlief der Camino bis etwa drei Kilometer vor Sahagun. Die letzten Kilometer folgten dann einer Landstraße. Dieser folgte ich schließlich bis ins Zentrum des Ortes.
Die städtische Herberge in Sahagun war eine Besonderheit. Man konnte sich einfach so ein freies Bett suchen, solang noch welche verfügbar waren. Gegen 19 Uhr sollte jemand kommen, zum Kassieren und Abstempeln.
Am Abend trank ich im Irish Pub gleich um die Ecke ein kühles Guinness. Dies hatte ich mir in den letzten beiden Tagen mehr als erarbeitet.
Vor bzw. beim Abendessen passierten noch drei etwas merkwürdige Dinge.
Ich schrieb an der langen Tafel in der Küche mein Tagebuch, da es keine andere Sitzgelegenheit gab. Plötzlich kam eine Frau ganz aufgeregt auf mich zu und fragte, ob ich englisch könnte.
„Ja“, antwortete ich. Sie war dem Dialekt nach zu beurteilen Engländerin und hatte anscheinend großen Bedarf sich mitzuteilen. Jeden Pilger, mich eingeschlossen, sprach sie an und erzählte, dass es hier in Sahagun in einer Kirche um Punkt 18 Uhr einen ganz besonderen Stempel gab. Dieser zeigte, dass Sahagun die Mitte des Camino Frances darstellte. Jedes Mal bei dem Wort Stempel haute sie mit der Faust auf den Tisch.
So toll sah der Stempel aber gar nicht aus. Ein Bild von diesem hing im Eingangsbereich der Herberge.
Als ich gerade mein Essen zubereitete, mehr als Käse, Schinken, Tomaten und ein Baguette war es nicht, kam ein Koreaner an und fragte, ob er ein Bild von meinem Teller machen könnte. „Natürlich“, antwortete ich. Er bedankte sich noch dreimal und ging dann weiter. Komische Sache.
Etwas später, ich war bereits fertig mit essen, kämpfte eine junge Koreanerin mit einem Glas Champignons. Sie bekam es einfach nicht auf. Ich deutete ihr an, dass ich es mal versuchen würde. Sie reichte mir das Glas, ich nahm einen Löffel und hob mit diesem den Rand des Deckels leicht an, sodass Luft ins Glas kam. Zack, das Glas war offen. Nicht nur die Koreanerin staunte, auch die restlichen Koreaner, wahrscheinlich eine ganze Pilgergruppe.
„Kommst du aus Deutschland?“, fragte ich einige Zeit darauf noch ein etwas älterer Pilger.
Ich: „Ja.“
Er: „Ich bin Marcellus. Wo bist du denn gestartet?“
Ich: „Ich heiße Daniel und bin vor 80 Tagen in Mainz gestartet.“
Ihm fiel das Kinn nach unten und er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, erzählte er, dass er in der Nähe von Mainz wohnt, aber jedes Jahr einige Wochen hier in Spanien lebt.
„Manch einer fliegt, läuft und fährt in 80 Tagen um die Welt und du …“ Bevor er weiter erzählen konnte, sagte ich: „… wanderst eben mal den Jakobsweg, tausende Kilometer lang.“
Unglaublich, dass bis hier 2200 Kilometer Vergangenheit sind.
Tag 81 – 06.06.2014 – Mansilla de las Mulas (38km)
Fast der gesamte Weg an diesem Tag verlief leider auf einem Schotterstreifen neben der Landstraße.
Eine erste Pause machte ich nach zehn Kilometern in Bercianos del Real Camino. Die Pause verbrachte ich zusammen mit Marcellus, dem Deutschen vom Abend am Vortag. Er erzählte mir, dass er schon zum x-ten Male auf dem Camino unterwegs sei, aber noch nie solche Fußprobleme, wie in diesem Jahr hatte.
Von den restlichen 28 Kilometern bekam ich fast nichts mit. Ich schaltete einfach mal meinen Kopf aus.
In zwei der Dörfer durch die ich lief, legte ich jeweils eine kurze Trinkpause ein und erreichte am Nachmittag Mansilla de las Mulas. Die ansässige wunderschöne private Herberge war leider schon voll, so zog ich ein paar Schritte weiter in die städtische.
Die Hospitalera sprach gutes Deutsch und fragte mich, ob ich denn die gesamte Strecke gelaufen sei. „Ja natürlich“ gab ich wahrheitsgemäß zu. Auch sie war erstaunt über Fülle an Stempeln, die bereits in meinem Credencials (Pilgerpass) drin waren. Augenblicke später führte sie mich durch die Herberge und zeigte mir alles. Im Innenhof rief sie: „Uwe, dieser junge Pilger ist von Deutschland aus gestartet.“ Uwe, nur ein anderer Pilger.
Nach einer frischen Dusche setzte ich mich in den Innenhof, legte ein wenig meine Füße hoch und wie konnte es anders sein, Uwe kam auf mich zu.
„Du bist also von Deutschland aus gestartet.“
Ich: „Ja, letztes Jahr die Strecke Jena über Fulda nach Mainz und dieses Jahr von Mainz aus los. Vor 81 Tagen.“
Uwe: „Gratulation. Tolle Leistung.“
Ich: „Danke, danke.“
Uwe: „Darf ich fragen, wie du denn von Fulda nach Mainz gekommen bist?“
Ich: „Auf der Bonifatius-Route, die war aber sehr schlecht beschildert. Da habe ich mich damals jeden Tag verlaufen.“
Uwe: „Na Gott sei Dank, bin ich nicht der einzige Mensch, der das so empfunden hat. Ich war da nämlich auch schon unterwegs und mir ging es genauso.“
Etwas später, ich war gerade beim Tagebuch schreiben, kam ein Pilger auf mich zu. Wir schauten uns gegenseitig an, so als ob wir wussten, dass wir uns kannten. Augenblicke darauf fiel es uns beiden fast zeitgleich ein. Wir saßen uns beim Abendessen in Ostabat, der vorletzten Station in Frankreich gegenüber.
„Wieso bist du denn jetzt erst hier?“, fragte er mich mit halb französisch und halb englisch.
„Ich habe den ersten Teil in Spanien etwas genossen“, gab ich als einfache Antwort.
Am Abend ging ich mit Uwe und Andreas, einem Pilger aus Frankfurt noch ein Bier trinken.
Andreas war nur durch Zufall auf dem Jakobsweg gelandet. Er hatte sich eigentlich die lange freie Zeit genommen, um mit ein paar Freunden und einem Tretboot die Donau hinab zum Schwarzen Meer zu fahren. Daraus wurde dann leider nichts und nun war er eben hier auf den Camino.
Er erzählte auch noch eine lustige Story, was ihm kurz vor Zubiri zugestoßen war.
Andreas lief auf den letzten Metern nach Zubiri. Da stand ein deutscher Reisebus am Straßenrand und eine ganze Gruppe deutscher Touristen stieg aus. Eine Frau sah ihn mit großen Augen an und fragte: „Sind sie ein Pilger?“
Andreas antwortete verdutzt „Äh, ja.“
Die Frau: „Darf ich sie mal anfassen?“
Uwe und ich kamen aus den Lachen fast nicht mehr heraus.
In den letzten drei Tagen bin ich den höchsten Durchschnitt der gesamten Reise gewandert. 126 Kilometer in drei Tagen, das macht 42 Kilometer pro Tag. Zuzüglich der kleineren Wege (Einkaufen, Barbesuche usw.) war es somit jeden Tag ein Marathon.
Ich habe mir zwar dadurch den schlimmsten Muskelkater seit Jahren in den Beinen zugezogen, aber darüber kann ich hinwegsehen.
Tag 82 – 07.06.2014 – Leon (20km)
Am frühen Morgen öffnete ich die Tür zum Innenhof und sah: Regen. Das erste Mal seit Tagen.
Wie auch bereits in den letzten beiden Tagen verlief der Jakobsweg wieder nur auf einen Feldweg entlang der Landstraße.
Eine kleine Frühstückspause genoss ich in Puente de Villarente. Kurz vor Arcahueja stieß ich auf Uwe und Andreas. Einige Meter liefen wir zusammen, sie machten dann Pause und ich zog weiter.
Der Regen hatte sich wieder gelegt und je näher ich Leon kam, desto besser wurde das Wetter.
Die letzten Kilometer nach Leon führten leider durch ein Industriegebiet.
Kaum in der Stadt drin lief ein Pilger mit einem Esel vor mir. Wir kamen ein wenig ins Gespräch. Er war Franzose und war bereits seit 43 Tagen unterwegs. Auf seine Frage, wie lange ich schon unterwegs war. Sagte ich: „Seit 82 Tagen.“ Er war bisher der einzige Pilger, der nicht erstaunt gewesen war.
Leider trennten sich unsere Wege schnell wieder. Immer weiter in die Stadt hinein, passierte es wie es kommen musste, ich verlief mich. Zum Glück war die Kathedrale aber ein so großes Gebäude, dass man sie auch in den vielen kleinen Seitengassen noch sah. So lief ich zur Kathedrale und dort in die Touristeninformation, um mir einen Stadtplan zu holen.
Einige Minuten später stand ich im Eingangsbereich der Herberge. Hier musste ich noch etwa 30 Minuten anstehen, da bereits so viele Pilger vor mir da waren.
Viele Pilger fangen ihren Camino auch erst hier in Leon an.
Gegen halb eins ging ich in die Einkaufsmeilen von Leon, um einen Outdoorladen aufzusuchen. Ich brauchte unbedingt neue Schuhe. Bei meinen war mittlerweile das Profil schon fast bis zur Zwischensohle abgelaufen und ich wollte einen irreparablen Schaden vermeiden.
Es dauerte nicht lange, da hatte ich auch schon einen gefunden und kurz darauf stand ich auch schon mit einem neuen Paar Wanderschuhen an den Füßen an der Kasse und bezahlte.
Meine Alten brachte ich zu Post. Auf dem Weg dahin stolperte mir doch glatt Marcellus über den Weg. Er hatte irgendwo vor Mansilla de las Mulas übernachtet und ist am Vormittag mit dem Bus nach Leon gefahren. Er fragte mich, wo ich denn übernachte.
„In der städtischen Herberge für fünf Euro.“
„Mich hat ein etwas Durchgeknallter Hospitalero in seine Herberge gelockt. Etwas heruntergekommen, im fünften Stockwerk eines Hauses und für satte 12 Euro.“ Berichtete er mit launischer Stimme.
So ein Pech und dass mit solch einem Gesundheitsproblem, Marcellus tat mir richtig leid.
An der Post kam ich gerade noch rechtzeitig an, denn um 13 Uhr sollte diese schließen. Am Schalter dauerte es dann mal wieder eine halbe Ewigkeit. Bis ich der guten Frau klar gemacht hatte, dass ich keinen anderen Karton besaß als den, den ich von meinen neuen Schuhen mitgenommen hatte.
Nachmittags besichtigte ich noch die Kathedrale. Im Unterschied zur Kathedrale in Burgos gab es hier keinen gesonderten Eintrittspreis für Pilger. Leider. Am Ausgang traf ich wieder auf Uwe und Andreas, zusammen liefen wir noch einige Meter zusammen. Wir wünschten uns gegenseitig noch alles Gute und schon trennten wir uns wieder.
„Bin gespannt, ob ich die beiden noch mal sehen werde. Ich hoffe auch, dass Marcellus seine Fußprobleme in den Griff bekommt.“
Auf der Strecke von Leon nach Santiago führt der Jakobsweg die Pilger noch über zwei Bergmassive. Zum einen die Montes de Leon, mit dem höchsten Punkt des gesamten Weges, dem auf 1517m gelegenen Cruz de Fero. Und zum anderen die Serra do Ranadoiro, mit dem O Cebreiro auf 1330m gelegen.
Tag 83 – 08.06.2014 – Villares de Orbigo (40km)
Sechs Uhr war der halbe Schlafsaal schon auf den Beinen, sodass ich ebenfalls aufstand und mich fertigmachte. Erstaunlicherweise so schnell, dass ich bereits um 6:15 Uhr die Herberge verließ.
An der Kathedrale vorbei führte der Jakobsweg im Zick-Zack-Kurs durch die Straßen Leons. Mehrere Kilometer durch ein Wohn- und Industriegebiet weiter befand ich mich in La Virgen del Camino.
Einige Meter hinter dem Vorort hatte der Pilger nun die Wahl zwischen zwei Wegalternativen. Zum einen eine ganze Tagesetappe entlang der Nationalstraße N-120 bzw. der Autobahn oder durch die karge Landschaft über das Dörfchen Villar de Mazarife. Ich entschloss mich natürlich für die ruhigere und entspanntere zweite Variante.
Über einen Schotterweg durch eine karge Landschaft kam ich nach etlichen Kilometern nach Villar de Mazarife und weitere zehn Kilometer darauf nach Villavante.
Während einer Pause schaute ich auf die Uhr, es war noch nicht einmal 14 Uhr. Laut Reiseführer sollten es bis nach Hospital del Orbigo nur noch fünf Kilometer sein. „Da könnte ich ja noch was Kleines dran hängen“, kam mir in den Sinn.
Fünf Kilometer weiter, ich war einige Meter in Hospital del Orbigo, da standen PKW´s rechts und links. Ich dachte mir jedoch nichts dabei. Auch beim Anblick von Girlanden, welche über den Straßen hingen, wunderte ich mich auch noch nicht.
Als ich jedoch dann über die altrömische Brücke mit ihren zahleichen Bögen lief, sah ich links unten eine Art mittelalterlichen Turnierplatz und vor mir nur noch Menschen. Da fiel es mir ein: In einer Jakobsweg-Dokumentation war mal die Rede von irgendwelchen Festspielen immer im späten Frühling. Dies musste es sein.
Nachdem ich mich durch die Menschenmenge geschlagen hatte, standen nur noch zweieinhalb Kilometer bis nach Villares de Orbigo vor mir. Die sollte ich an diesem Tag auch noch schaffen. In Hospital de Orbigo bekäme ich sowieso kein freies Bett mehr.
Ich betrat den Ort und fand schnell die Herberge in einem alten umgebauten Bauernhaus. Der Hospitalero Pablo empfing mich sehr freundlich und zeigte mir als erstes das Bett und die Duschen „Deinen Pilgerpass und das Bezahlen machen wir später“ sagte er.
Später, ich hatte mich ausgeruht und geduscht, bezahlte ich und Pablo nahm, meinen Credencial um mir einen Stempel zu geben.
Er war perplex, dass dieser schon so groß war. Als ich dann noch auf seine Frage hin, wie lange ich denn bereits unterwegs sei bzw. wie viele Kilometer ich schon hinter mir hatte, antwortete: „83 Tage und 2300 Kilometer“, war er fassungslos.
Gegen Abend lernte ich in der Herberge das deutsche Paar Jochen und Angelika kennen. Auch sie waren bereits das zweite Mal auf dem Jakobsweg. Das erste Mal sind sie genau wie ich damals am 23.04.2012 gestartet, nur in Saint-Jean und nicht erst in Burgos.
Das Abendessen wurde von Pablo und seiner Frau zubereitet und war komplett auf Spendenbasis. Wegen des hervorragenden Geschmacks spendete man natürlich etwas mehr.
Meinen Füßen ging es nach diesem Tag sehr gut, obwohl ich mal so locker aus dem Handgelenk heraus 40 Kilometer in neuen nicht eingelaufenen Wanderschuhen hinter mir hatte.
Tag 84 – 09.06.2014 – Rabanal del Camino (37km)
Irgendwann zwischen halb und um sieben Uhr ging ich los. Über einen Schotterweg kam ich auf eine Anhöhe. Von hier hatte man einen wunderschönen Blick zurück auf Villares de Orbigo, wie es gerade im Licht des Sonnenaufgangs erstrahlte. Aber auch der Blick nach vorne, nach Santibánez de Valdeiglesias war nicht der schlechteste, zumal ich mich immer noch gerne an das Abendessen in der Herberge von Herkules, zwei Jahre zuvor, zurückerinnerte.
Bergauf und bergab führte der Camino über eine Hochebene zum Wegkreuz von Santo Toribo, gelegen auf ca. 900 Höhenmetern. Von hier war es nur noch ein Katzensprung nach Astorga. So schnell, wie ich in Astorga drin war, war ich dann aber auch schon wieder draußen und machte mich auf die fünf Kilometer Landstraße nach Murias de Rechivaldo.
Auf einer Schotterpiste kam ich anschließend immer höher, zuerst nach Santa Catalina und einige Kilometer darauf in das Bergdorf El Ganso. In einer Cowboy-Bar stärkte ich mich hier noch einmal für die letzten sieben Kilometer.
Diese führten mich auf einen Weg parallel zur Straße, später steil bergauf nach Rabanal del Camino.
Das Wetter war den ganzen Tag eher trüb, aber trocken. In Rabanal angekommen lockerte es merklich auf und das Bergdorf erstrahlte im schönen Sonnenschein.
Am Abend saß ich vor der Bar direkt neben der Herberge und trank ein kühles Bier zum Abschluss auf diesen schönen Tag.
Dabei kam ich mit einem belgischen Paar und zwei deutschen Jungs ins Gespräch. Die beiden Jungs, Nico und Julius, hatten gerade ihr Abitur in der Tasche und überbrückten mit dem Jakobsweg noch ein wenig Zeit, bevor sie anfingen zu studieren. Da man als angehende Studenten ja ein wenig aufs Geld schauen muss, trugen die beiden je ein Ein-Mann-Zelt mit sich herum und zelteten dort, wo sie ihre Füße hintrugen, vorwiegend aber auf den Grundstücken von Herbergen.
Zu fünft spielten wir noch die eine und andere Runden Mau Mau. Als dann das belgische Paar zum Essen ging, begleitete ich die beiden Jungs noch ein paar Meter zu ihrer Herberge zurück, die private Herberge El Pilar. Nicht nur der schön gestaltete Innenhof überraschte mich, sondern auch ein Pilger, der da stand: Marcellus der Deutsche aus Mainz. Ihn hatte ich seit Leon nicht mehr gesehen. „Wie kommst du denn so schnell hierher?“, fragte ich ihn.
„Ach, ich bin mit dem Bus für 3,84 Euro von Leon nach Astorga gefahren und von dort an gelaufen“, gab er mir als Antwort.
Zurück in meiner Herberge legte ich mich gegen 21 Uhr schlafen.