Teil 10 – Santiago bis Finisterre
Tag 94 – 19.06.2014 – Vilaserio (37km)
Nach einem guten Schlaf stand ich auf, schnappte meine Sachen und verließ den Raum. Die anderen vier Personen schliefen noch und ich wollte sie ja nicht aufwecken.
Kurze Zeit später kam die junge deutsche Frau heraus, die die mich am Vortag für verrückt erklärt hatte. Sie sagte: „Ich habe auf meinem Jakobsweg noch nie einen erlebt, der so leise gegangen ist.“
Ich: „Danke, 3000 Kilometer trainieren halt.“
Auf den ersten Kilometern hinter Santiago traf ich auf relativ viele Pilger. Zumindest waren es mehr als vor zwei Jahren.
Durch einen Eukalyptuswald hindurch führte der Weg teilweise steil bergauf und bergab nach Quintans. In einer nur 50 Meter abseits gelegenen Bar, machte ich eine Frühstückspause. Entlang von Teerstraßen ging es weiter über kleine beschauliche Dörfer bis nach Negreira.
Kaum kam ich hier an, rief Otto an und fragte mich: „Hallo Daniel. Bist du noch in Santiago?“ Ich: „Nein, bin schon auf dem Weg ans Meer und gerade in Negreira angekommen.“
Er erzählte mir noch ein wenig von seinen letzten Tagen am Kap und das er Evelyn von meinen beiden schweizer Engeln getroffen hatte. Ich war immer der Annahme gewesen, sie hätte mir gesagt, dass sie nur bis nach Logrono kommen wollte.
Kurz hinter Negreira führte der Camino wieder in den Wald hinein und ich traf auf Regina, die gerade ihre Pause auf einem Stein beendet hatte.
Zusammen liefen wir die restlichen elf Kilometer. Diese verliefen fast ausschließlich durch die Wälder Galiciens. Nur die letzten zwei drei Kilometer mussten wir auf der Landstraße zurücklegen.
Ich war noch nie so froh gewesen ein Ortseingangschild zu sehen, wie in diesem Augenblick als, als ich das Schild von Vilaserio erblickte.
Mein Schienbein hatte wieder angefangen mich zu ärgern und auch mein Magen verschlimmerte sich wieder ein wenig.
In der Herberge angekommen, trafen im Laufe des Nachmittags und frühen Abends immer mehr Pilger hier ein. Auch Gerd der Österreicher und zwei junge Pilger (Deutsche). Die beiden legten sich sofort nach ihrer Ankunft erst einmal aufs Ohr und schliefen eine Runde.
Insgesamt waren wir am Ende 14 Leute, die gute Hälfte davon Deutsche oder zumindest Deutschsprachige.
Mit einem gewissen Matthias kam ich am Abend ein wenig ins Gespräch. Er war den Camino Primitivo gepilgert und wollte nun über Muxia nach Finisterre kommen.
Gegen 22 Uhr wollten eigentlich alle ruhig schlafen. Da fingen die zwei jungen Pilger an mit ihren Tüten zu knistern und dauernd durch die Tür rein und raus zu laufen. Die beiden waren ihren ersten Tag unterwegs und wollten den Jakobsweg nur mal kennenlernen, eben mit den letzten drei bis vier Tagen von Santiago ans Kap. „Kein Wunder, dass die beiden nicht müde sind.“, dachte ich.
Tag 95 – 20.06.2014 – Cee (42km)
Bei meinem Aufbruch am frühen Morgen in Vilaserio lag die ganze Umgebung in einem Morgennebel. Fast nur auf Landstraßen kam ich nach neun Kilometern in Santa Marina an und lief hier gleich zu einer ausgeschilderten Bar. Auf den kurzen Metern bis dahin kam mir Gerd entgegen. Er hatte ebenfalls hier Pause gemacht und laut seiner Aussage richtig gut gegessen.
Auf der Landstraße ging es weiter über den höchsten Punkt der Strecke von Santiago nach Finisterre, dem Monte Aro (450 Metern hoch). Durch die Dörfer Geima, Lago und Ponte Olveira kam ich nach weiteren zehn Kilometern in Olveiroa an.
Aus einer kleinen Bar im Ort kam Regina raus und wir liefen gemeinsam bis nach Logoso. Hier brauchte ich wieder eine kleine Trinkpause. Regina zog weiter und sagte nur noch so: „Du holst mich doch eh wieder ein, so schnell wie du heute läufst.“ „Dabei laufe ich doch ganz normal, zumindest nicht schneller als es mein schmerzendes Bein erlaubt“, dache ich.
Kurze Zeit später lief ich weiter durch die Ansiedlung Hospital de Logoso bis zu dem Punkt, wo sich der Jakobsweg teilte. Links führte der Weg über Ceé nach Finisterre und rechts ging es weiter nach Muxia. „Diesen Weg würde also Matthias nehmen“, murmelte ich vor mich hin.
Für mich ging es jedoch links weiter. An einer Hochofenfabrik vorbei zu einem Schild mit dem Aufdruck „Last Bar for 15 km to Ceé“ (Die letzte Bar für 15 Kilometer nach Ceé). Ich kaufte mir hier eine Dose kalte Cola als Verpflegung und zog sofort weiter.
Auf einem Schotterweg führte der Camino kilometerweit geradeaus, bis man nach etwa neun Kilometern schräg links das erste Mal das Meer erblickte. Fast vier Kilometer weiter, konnte ich endlich auch das langersehnte Kap Finisterre sehen. Hier realisierte ich nun das erste Mal, dass ich ja von zu Hause aus bis hier hergelaufen war, über 3000 Kilometer auf meinen eigenen Füßen. Ich musste mit den Tränen ringe, konnte mir aber einen Jubelschrei nicht verkneifen. Weit und breit war kein anderer Pilger zu sehen, der das hätte hören können.
Teils sehr steil bergab ging es nun nach Ceé. Kurz vor dem Ortseingang traf ich auf Gerd und Regina. Als Dreiergruppe liefen wir gemeinsam weiter und suchten uns eine nette Herberge.
Gegen halb vier Uhr nachmittags hatten wir die unglaubliche Strecke von 42 Kilometern geschafft.
Am späten Nachmittag saß ich im Ankunftsbereich der Herberge auf einer Couch und schrieb mein Tagebuch. Plötzlich kam eine Pilgerin ganz aufgeregt aus dem Schlafsaal und fragte, nach dem Hospitalero (auf Englisch).
Ich: „Draußen, glaube ich!“
Sie: „Kinder haben mit einem Ball vor dem Fenster gespielt und nun eine Glasscheibe zerschossen.“
Ich dachte mir: „Schaust dir mal den Schaden an.“
Wie es der Zufall wollte, befand sich das Einschussloch genau in der Glasscheibe über meinem Bett. Vom Rucksack pustete ich die Splitter herunter, meinen Schlafsack schüttelte ich aus und meine Schuhe kippte ich mal um.
„Hoffentlich steche ich mir nichts in die Füße.“
Augenblicke später kam auch schon der Hospitalero, kehrte die restlichen Scherben noch zusammen und sagte zu mir, dass es doch besser wäre, wenn ich das Bett wechseln würde.
„So etwas Verrücktes in der letzten Pilgerherberge! Dabei war heute nicht einmal Freitag, der 13.“
Geraume Zeit später am Abend saß Regina vor einem der freien Internetterminals in der Herberge und las ein wenig im Blog von Eiko und Tilo. „Du Daniel, Eiko und Tilo sind heute in Santiago angekommen und schreiben, dass sie morgen nach Finisterre fahren. Vielleicht treffen wir sie ja noch“, sagte sie zu mir.
„Das wäre ja noch eine tolle Begegnung hinten am Ende der Welt“, erwiderte ich.
Tag 96 – 21.06.2014 – Finisterre (16km)
-Der letzte Tag. Das Ende der Welt war nahe-
Da es an diesem Tag nur noch kurze 14 Kilometer waren, schliefen wir alle relativ lange.
Kurz vor halb acht lief ich fast zeitgleich mit Regina los. Gerd packte noch seinen Rucksack und wollte nachkommen.
Entlang der Uferpromenade von Ceé kam ich zunächst nach Corcubion. Hier gesellte sich Regina wieder zu mir und wir liefen gemeinsam auf kleinen Feldwegen, Pisten und Landstraßen über Amarela, Estorde nach Sardineiro.
Einige Meter hinter dem Dorf befand sich ein Strand, welcher schon zu Finisterre gehörte.
Hier badete Regina ihre Füße im Ozean und ich konnte endlich ein Foto von meinem Rucksack am Strand schießen. Es dauerte nicht lange, da kam Gerd angelaufen und sprang gleich komplett in das kalte Nass hinein.
Eine halbe Stunde später bewältigten wir schließlich noch die letzten zwei Kilometer bis ins Zentrum der kleinen Fischerstadt Finisterre.
Hier kannte ich bereits vom Jakobsweg 2012 eine nette Bar mit deutschen Besitzern und so genossen wir ein fürstliches Frühstück mit Sekt. Den hatte sich jeder von uns mehr als verdient.
Anschließend liefen wir noch die letzten dreieinhalb Kilometer hinaus zum Kap.
Am Nullstein angekommen war nun meine Reise von zu Hause bis ans Ende der Welt offiziell zu Ende.
Beim gemeinsamen Foto tauchten wie aus dem Nichts Eiko und Tilo auf. Was für ein Zufall, die beiden hier draußen wiederzusehen. Aber sie hatten es ja angekündigt.
Eine gute Stunde später liefen Gerd und Regina zurück nach Finisterre und ich trank mit Eiko und Tilo noch einen Kaffee.
Halb drei stand ich an der Hotel-Rezeption und checkte ein. Ich stellte meinen Rucksack ins Zimmer und sprang schnell in die städtische Herberge, um mir meine Finisterrana (die Urkunde von Finisterre) abzuholen. Beim Warten kam Regina an und sagte mir, dass man neuerdings drei Stempel bräuchte, um Anspruch auf dieses Papier zu haben. Aus diesem Grund habe Gerd seine nämlich nicht bekommen, da er nur zwei Stempel seit Santiago hatte.
Ich dachte mir so: „Was ist denn das für eine sinnlose Regel. Wieso glauben die einem nicht mehr, dass man in drei Tagen von Santiago hier hergekommen ist?“ Zum Glück hatte ich mir aber hinten am Kap den Stempel aus dem Leuchtturm geholt. Der gute Herr stelle mir ohne Nachfrage meine Urkunde aus und ich lief wieder nach draußen, wo die anderen schon auf mich warteten.
Zu fünft gingen wir noch für einige Zeit in eine Bar.
Halb fünf Uhr fuhr der Bus von Eiko und Tilo zurück nach Santiago. Trotz des nur kurzen Wiedersehens war es ein schöner Abschied.
Wir anderen drei verabredeten uns für acht Uhr, an der städtischen Herberge um gemeinsam hinaus ans Kap zu laufen, um dort den Traditionen der Pilger Folge zu leisten.
Etwas verbrennen, mehr oder weniger schweigend den Sonnenuntergang erleben und die Jakobsmuschel dem Atlantischen Ozean zurückzugeben.
20 Uhr trafen wir uns und zogen zu viert hinaus zum Kap. Regina, Gerd, Claudia (eine Pilgerbekannte von Gerd) und ich.
Am Ende angekommen, suchten wir uns eine relativ windgeschützte Stelle und verbrannten einige unserer verschlissenen Sachen. Hut, Shirt und Socken mussten dran glauben.
Ich schleuderte meine Jakobsmuschel zurück ins Meer. Dann warteten wir auf den Sonnenuntergang.
22 Uhr sank die Sonne gefühlt immer schneller und verschwand etwa 22:20 Uhr kurz über dem Horizont dann leider hinter Wolken. Es war aber trotzdem wunderschön.
Aus einem Zufall heraus drehten wir uns um und schauten kurz in die Gegenrichtung nach Osten. Was wir da zu sehen bekamen, war schöner als der eigentliche Sonnenuntergang. Ein atemberaubendes Farbenspiel zwischen der untergegangenen Sonne, den Wolken und dem Meer.
23 Uhr machten wir uns auf den Rückweg ins Städtchen. Da die anderen drei am folgenden Vormittag zurück nach Santiago fahren würden, versprach ich ihnen, zur Bushaltestelle zu kommen, um mich zu verabschieden.
Am Nachmittag bekam ich noch eine SMS von dem deutschen Paar mit Kind (Torsten, Mandy und Kaety). Sie sind in Santiago angekommen und werden nun noch raus ans Meer wandern.
Tag 97 – 22.06.2014 – Finisterre (0km)
Kurz nach neun Uhr verabschiedete ich mich von Regina, Claudia und Gerd.
Fast den ganzen restlichen Tag verbrachte ich an einem der Strände von Finisterre.
Auf dem Rückweg durch die Gassen und Straßen bemerkte ich, dass alles so wunderbar geschmückt war. Eine Hochzeit wie sich später herausstellte.
Am Nachmittag bekam ich von Anna H. eine SMS: „Bin zusammen mit Martin heut in Santiago angekommen.“ Die beiden haben es also auch geschafft.
Gegen halb fünf ging ich kurz zurück zum Hotel, eigentlich nur, um meine Sonnenbrille, zu holen. Da staunte ich nicht schlecht, wer denn da an einem kleinen Tisch in der Bar meines Hotels saß: Marie und Marie aus Luxemburg, auch von dort gestartet.
Den beiden begegnete ich das erste Mal in der Casa Paderborn, später noch einmal irgendwo mal kurz auf dem Weg und ein letztes Mal in Hornillos del Camino (einen Tag hinter Burgos, also vor gut drei Wochen). Was für ein Zufall die beiden hier wiederzusehen. Der Ehemann der einen Marie ist mit dem Auto hierher gekommen und holt sie nun ab.
Zusammen mit den dreien lief ich gegen halb neun wieder hinaus zum Kap.
Da wartete dann die nächste unglaubliche Überraschung auf mich: Nico und Justus, die beiden Studenten-Camper. Sie liefen aber leider schon wieder zurück, da sie Bärenhunger bekommen hatten. „Jetzt fehlt ja nur noch Marcellus“, dachte ich.
Ihn traf ich aber leider damals in Villafranca das letzte Mal.
Auch an diesem Tag verschwand die Sonne kurz vorm Horizont hinter Wolken.
Auf dem Weg zurück nach Finisterre traf ich zum Abschluss des Tages noch das deutsche Paar, mit dem ich in Santiago zusammen am Pilgerbüro anstand.
Tag 98 – 23.06.2014 – Finisterre (0km)
– mein zweiter und letzter Ruhetag hinten am Meer
Nach den Überraschungen und dem Wiedersehen am vergangenen Tag war dieser Tag einfach nur schön.
Im Hafengelände traf ich auf Angelika und Antje. Wir verabredeten uns, zurück in Santiago, noch einen Kaffee trinken zu gehen.
Kurze Zeit später lief mir Matthias über den Weg. Er war an diesem Tag aus Muxia hier angekommen.
Den letzten Abend verbrachte ich dann leider nicht hinten am Kap, sondern in der Hotelbar, da es bis etwa halb Zehn in Strömen regnete. Danach war einfach die Zeit zu kurz gewesen, um noch die 3,5 Kilometer raus zu laufen.
Diese beiden Ruhetage waren ein sehr guter, ruhiger und verdienter Abschluss meiner Reise. Auch meinem Schienbein und Magen tat es richtig gut, denn beide waren wieder vollkommen in Ordnung.